Aktuelle Ausgabe zum Lesen  eye   zum Hören  ear
Schriftgröße  

Das Frankfurter Franziska-Schervier-Seniorenzentrum setzt Psychopharmaka ganz gezielt ein und bietet auch Alternativen

Der alte Mann kommt nachts nicht zur Ruhe. Im Franziska-Schervier Seniorenzentrum in der Frankfurter Innenstadt muss er das auch nicht. Die Nachtwache nimmt ihn einfach mit auf ihre Runde. Nach anderthalb Stunden auf den Beinen verabschiedet er sich zufrieden mit den Worten: „Ich mache Feierabend.“ Nächtliche Unruhe von Pflegeheimbewohnern muss nicht immer mit dem Griff zur Tablettenschachtel beantwortet werden. Manchmal passt ein Wach-Schlaf-Rhythmus nämlich auch deshalb nicht zum Alltag im Heim, weil eine Bewohnerin ihr Leben lang im Schichtdienst gearbeitet hat oder daran gewöhnt ist, bis tief in die Nacht Fernsehen zu schauen. Kenntnisse des einstigen Lebensalltags der Senioren und entsprechende Impulse des Pflegepersonals können dazu führen, dass eine alte Dame sich anders verhält, ohne auch nur eine einzige weitere Pille einzunehmen. Das Seniorenzentrum legt großen Wert auf seine Biografiearbeit nach dem Modell von Erwin Böhm.

Auch dann, wenn der Einsatz von Psychopharmaka geboten ist, hat das Seniorenzentrum inzwischen Maßstäbe gesetzt: „Wir haben intensiv an unserem Pflegedokumentationssystem gearbeitet und die Kommunikation mit den Ärzten verbessert“, sagt Hausleiter Bernd Trost. Anlass für das Umsteuern war eine Studie des Frankfurter Gerontopsychiaters Johannes Pantel über den Einsatz von Psychopharmaka in dem Pflegeheim aus dem Jahr 2005. Damals passten die meisten Psychopharmaka-Verordnungen nicht zu den Erkrankungen der Bewohner.

Und heute? Bernd Trost legt ein Blatt Papier auf den Tisch, eigens für das Gespräch mit der Senioren Zeitschrift ließ er im Haus Stichproben nehmen. Das Ergebnis: „Die Situation hat sich von damals bis heute deutlich verbessert.“ Das optimierte Dokumentationssystem macht die Verordnungen von Psychopharmaka transparent. Warum die Tabletten verschrieben wurden, ist dort ebenso festgehalten wie ein aufklärendes Gespräch, das der Arzt mit dem Patienten oder seinem gesetzlichen Betreuer führte sowie dessen Einwilligung. Zuständig für die psychiatrische Versorgung ist ein fester ärztlicher Ansprechpartner der Vitos Klinik Bamberger Hof. Er kann in die Pflegedokumentation hineinklicken und hineinschreiben und nimmt bei Bedarf an Fallbesprechungen im Pflegeteam teil. Für jeden einzelnen Bewohner prüfen Ärzte und Pfleger, ob dieser eine Medikamentengabe nötig hat oder ihn andere Maßnahmen am wirkungsvollsten unterstützen. „Epilepsie wäre beispielsweise eine Indikation dafür, ein Medikament zur Verhinderung von Krampfanfällen, also ein Neuroleptikum zu geben“, sagt Stefan Vörös, der in dem Heim verantwortlich für die Qualitätssicherung in der Pflege zeichnet. Auch wenn Senioren mit paranoiden Erkrankungen oder Schizophrenien ins Seniorenzentrum ziehen, erhalten sie dort ihre Medikamente weiter.

Ein anderes Thema ist die sogenannte Bedarfsmedikation. Stefan Vörös gibt ein Beispiel: Ein Arzt sagt, bei Unruhe könne die Dosis eines Beruhigungsmittels für eine Bewohnerin erhöht werden. „Aber die Frage ist, wie sieht die Unruhe aus? Geht die Dame so lange ruhelos umher, bis sie erschöpft ist und ein Sturz droht? Dann wäre einzugreifen.“ In jedem Fall muss der Arzt klar angeben, wann Pflegekräfte ein Medikament überhaupt einsetzen oder seine Dosis erhöhen dürfen. „In unserem Dokumentationssystem kann die Nachtwache heute konkret nachvollziehen, in welcher Situation sie ein Medikament geben soll, aber es war ein langer Weg dorthin“, sagt Trost.

2009 wurde eine zweite Studie des Frankfurter Gerontopsychiaters Johannes Pantel über das Seniorenzentrum veröffentlicht. Darin wurde untersucht, ob Handlungsempfehlungen der Fachleute aus der ersten Studie umgesetzt worden waren. „Wir waren mit den Studien auf Fachtagungen, hatten ein großes Medienecho und deutschlandweite Anfragen“, sagt Trost, „die Studienergebnisse sind veröffentlicht, auch andere Heime können damit arbeiten.“ Doch seine Bilanz fällt ernüchternd aus. Bei der katholischen Franziska-Schervier Altenhilfe mit ihren sieben Einrichtungen seien die Erkenntnisse der Studien in das Qualitätsmanagement eingeflossen. Darüber hinaus hätten sie allerdings nicht viel Widerhall gefunden.

In dem Frankfurter Seniorenzentrum wägt auch ein Ethikkomitee Schaden und Nutzen des Einsatzes von Psychopharmaka ab. All das stellt hohe Anforderungen an die Pflegekräfte, „wir bieten alle zwei bis drei Jahre mehrtägige Fortbildungen an“ sagt Vörös. Eine Investition, die sich rechnet: „Unsere Personalfluktuation ist sehr gering, deshalb genügen die Fortbildungen in diesen Zeitabständen. Aber ohne diese kontinuierliche Personalentwicklung und laufende Qualitätssicherung wäre das erreichte Niveau auf Dauer nicht zu halten“, sagt Bernd Trost. Und noch eines hält er zum Abschied bereit: Obwohl die Zahl der Hausbewohner mit psychischen und seelischen Beeinträchtigungen zugenommen hat, ist die Rate der Psychopharmaka-Verordnungen gesunken: von 55,6 Prozent 2004 auf 49 Prozent 2017. Susanne Schmidt-Lüer